08/08/2024 0 Kommentare
"Erinnern heute" - Vortrag Dr. Irme Stetter-Karp
"Erinnern heute" - Vortrag Dr. Irme Stetter-Karp
# Texte zum Jubiläum
"Erinnern heute" - Vortrag Dr. Irme Stetter-Karp
Sehr geehrte Schwestern der Karmelgemeinschaft,
Verehrte Gäste,
Sie haben mich eingeladen anlässlich des 60-jährigen Jubiläumsjahres der hiesigen Gedenkkirche Maria Regina Martyrum zu Ihnen zu sprechen. Dieser Einladung bin ich sehr gerne gefolgt und ich will die Frage in den Mittelpunkt stellen, WIE wir heute Erinnern können. Dabei ist von der ersten Minute an klar: um ein harmloses Thema geht es nicht, wenn wir von Kirche und Nationalsozialismus sprechen. Es ist eine schmerzlichunangenehme Verflochtenheit, die bis ins Mark der Theologie geht und es ist über Erinnern kaum aufrichtig zu sprechen, ohne sich der Schuldfrage auch in der Weise zu stellen: wie hätten wir gehandelt? Wo wäre unser Platz gewesen? Um der Schwere des Themas auch nur annähernd gerecht zu werden, werde ich meinen Text immer wieder mit einem Gedicht von Hilde Domin aus den Liedern zur Ermutigung unterbrechen, damit wir mit der Sprache der Lyrik innehalten können.
Am 05. Mai 1963 wurde die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum geweiht. Mit dieser Kirchweihe wurde ein Versprechen der Katholiken in Deutschland erfüllt. Diese gelobten den Bau einer „Gedächtniskirche der deutschen Katholiken zu Ehren der Blutzeugen für Glaubens- und Gewissensfreiheit in den Jahren 1933-1945“. Ein Erinnerungsort für die christlichen Widerstandskämpfer*innen sollte also geschaffen werden. Ich komme darauf zurück.
Im selben Jahr 1963 hat Erwin Piscator in Berlin im Haus der Freien Volksbühne am Kurfürstendamm die Uraufführung des
Dokumentardramas „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth inszeniert: das „christliche Trauerspiel“ portraitierte den 1958 in weltweit hohem Ansehen verstorbenen Papst Pius XII. als „satanischen Feigling“, der aus persönlicher Schwäche zum Holocaust geschwiegen habe, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, die Ausrottung der europäischen Juden zu verhindern. Der Papst habe nicht nur moralisch versagt, sondern auch verbrecherisch gehandelt. Das Echo des Theaterskandals war gewaltig und wirkte über Jahrzehnte nach! Die Kirche als Komplizin der Nationalsozialisten?
1963 können wir deshalb auch als das Jahr erinnern, das die umkämpften Schneisen der Erinnerung deutlich macht, die die Kirche und den NS verbinden.
Wie stand es um die Kirche im Nationalsozialismus? Sind christliche Widerstands-kämpfer*innen nur das Feigenblatt, um der schwierigen Geschichte der eigenen Kirche nicht ins Auge blicken zu müssen? Wie können wir heute noch an christliche Widerstandskämpfer*innen erinnern, ohne dem Vorwurf zu erliegen, die Verflechtungen in die Schuldgeschichte des Nationalsozialismus auszublenden? Wie können wir hier erinnern, an diesem konkreten Ort mitten in Berlin. Berlin, der Stadt die Zentrum des Terrors war und in der zugleich Menschen wie Alfred Delp SJ und Helmuth James Graf von Moltke für eine bessere und friedliche Zukunft kämpften. Wie können wir heute noch davon sprechen, ohne dem Vorwurf der selbstbestätigenden Nabelschau zu erliegen? Dazu werde ich im Vortrag 5 Schritte gehen: 1. Geschichten über die Märtyrer, 2. der Beginn der Erinnerungskultur am Plötzensee, 3. ein Realitätscheck zu den Kirchen in der NS-Zeit, 4. die Kritik am deutschen Stil der Erinnerung und 5. am Ende die Frage: wie also erinnern?
1. Geschichten über die Märtyrer
An zwei Persönlichkeiten aus dem Kreisauer Kreis lässt sich aus der Hauptanklage gegen sie erkennen, dass sie dezidiert als christliche Widerständler verurteilt wurden. Ich spreche von Helmuth James von Moltke und dem Jesuit Alfred Delp. Der Kreisauer Kreis war eine zivile Widerstandsgruppe, die sich mit Plänen zur politisch-gesellschaftlichen
Neuordnung nach dem angenommenen Zusammenbruch der HitlerDiktatur befasste. Die Grundidee der Kreisauer war: ein Ende nationaler Machtpolitik, ein geeintes Europa und Grundrechte für jeden Einzelnen. Nach der Verhaftung Graf von Moltkes Anfang 1944 löste sich der Kreisauer Kreis de facto auf, einige schlossen sich der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg an. Alfred Delp und Helmuth J. von Moltke standen gemeinsam am 10. Januar 1945 vor dem Volksgerichtshof, der sie zum Tode verurteilte. Der einzige Anklagepunkt, der ihnen nachgewiesen werden konnte, war, dass sie miteinander im Kreisauer Kreis gesprochen hatten. Was Moltke und Delp am Prozessverlauf überraschte: Der Anklagepunkt wurde dahingehend präzisiert, dass sie als Christen miteinander über die Zukunft Deutschlands konferiert hatten. Noch im Gefängnis legt Delp ein letztes Gelübde ab und tritt endgültig dem Jesuitenorden bei. Er wäre freigelassen worden, wenn er das nicht getan hätte. Alfred Delp schreibt an seine Schwester: „Es war eine reine Sache gegen den Herrn Gott und den verteidige ich.“ Die Worte von Alfred Delp bleiben und erinnern: „Es sollten einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ Für mich persönlich, die ich zwei Jahrzehnte für die deutsche Caritas in Führungsaufgaben tätig war, hat Alfred Delp seit langem eine besondere Bedeutung wegen seiner Vision einer spirituellen, ökumenischen und diakonischen Kirche, die sich für eine Erneuerung der Gesellschaft einsetzt und nicht nur um sich selbst kreist.
Ein erstes Gedicht von Hilde Domin Unsere Kissen sind naß von den Tränen verstörter Träume. Aber wieder steigt aus unseren leeren hilflosen Händen die Taube auf.
2. Beginn der Erinnerungskultur am Plötzensee
Am 23. Januar wurde Graf von Moltke hingerichtet und am 02. Februar 1945 Alfred Delp, beide in Berlin-Plötzensee. Und damit wenden wir uns diesem Ort hier in der Nähe zu. Beim 75. Deutschen Katholikentag 1952 in Berlin wurde erstmals in einer eigenen Veranstaltung der Blutzeugen des Drittens Reichs gedacht. Der damalige Ortsbischof Weskamm rief die deutschen Katholik*innen zum Bau einer Gedenkkirche für die Märtyrer des Dritten Reichs auf. Beim 78. Katholikentag 1958 in Berlin nimmt die Idee dann Gestalt an. In einem Grußwort schreibt Pius XII.: „An einer Stätte, wo in dunkler Zeit Todesurteile am laufenden Band vollstreckt wurden, plant ihr ein Heiligtum zu Ehren der ‚Regina Martyrum‘ und zum Gedächtnis jener aus euren Brüdern und Schwestern, Deutschen und Nicht-Deutschen, die damals ihr Einstehen für die Rechte Gottes und des guten Gewissens mit ihrem Blut besiegelt haben.“ Es folgt eine Kollekte in allen deutschen Diözesen und der Bau der Gedenkkirche wird zur Angelegenheit des deutschen Katholizismus. 1960 erfolgt die Grundsteinlegung der Kirche durch Kardinal Döpfner und 1963 dann schließlich die Kirchweihe. Von Beginn an war die Kirche die Gedenk- und Gemeindekirche für die Katholik*innen in dem umliegenden Neubaugebiet Charlottenburg-Nord. Ein Text an der Mauer links neben dem seitlichen Eingangstor erinnert an ein Wort von Bischof Döpfner: „Maria als Schmerzensmutter und zugleich als das ‚große Zeichen‘, die verherrlichte Königin, ist Schutzfrau und Mutter der Berliner Bistumsfamilie.“
3. Realitätscheck: Kirche im NS größtenteils passiv
Hält die Wirklichkeit dem Stand? Schutzfrau und Mutter der Berliner Bistumsfamilie? Das klingt erhaben und rein. Schaut man sich die Geschichte der Katholik*innen im Nationalsozialismus genauer an, wird aber doch bald klar, dass die „Familie“ keinesfalls eine verfolgte Gruppe aus Widerstandskämpfer*innen war.
Jahrzehntelang hat die historische Forschung den Terminus des „Kirchenkampfs“ verwendet und damit einen kirchlichen Abwehrkampf gegen das NS-Regime von Beginn an impliziert. Dieses Bild muss aus heutiger Perspektive deutlich differenziert werden. Beide großen Kirchen begrüßten weitgehend das Ende der Weimarer Republik. Nicht nur in einer antiliberalen und antikommunistischen Grundhaltung, sondern auch in einer generellen Präferenz für einen autoritären Staat stimmten die einflussreichen Vertreter der christlichen Konfessionen mit dem NSRegime überein. Oft verbanden sie damit die Hoffnung auf eine ReChristianisierung Deutschlands. Die evangelischen Landeskirchen erfasste im Umbruchjahr 1933 eine Art nationaler Euphorie, die in den Zeremonien anlässlich des „Tages von Potsdam“ am 21. März 1933 exemplarisch einen Ausdruck fand und von den „Deutschen Christen“ weiter vorangetrieben wurde. Die katholischen Bischöfe nahmen Ende März 1933 die Unvereinbarkeitserklärungen zwischen katholischem Bekenntnis und Nationalsozialismus zurück. Am 20. Juli 1933 wurde im Vatikan das Reichskonkordat unterzeichnet, das die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche im Deutschen Reich und dem NS-Staat fortan regelte. Die Freiheit des Bekenntnisses und die Ausübung der katholischen Religion waren damit ebenso wie der Fortbestand katholischer Fakultäten, Schulen, Vereine und Verbände, vorerst geregelt. Wurde also einmal mehr in der Geschichte der eigene Machterhalt höher eingestuft und als wichtiger erklärt, als der Beistand für alle Entrechteten und die Verteidigung der Menschenrechte? Es lässt sich nicht verhehlen: Angesichts der Sorge um die Einschränkung des eigenen religiösen Lebens waren die Kirchen weitegehend auf sich selbst fokussiert. Zudem erleichterten antisemitische Dispositionen, die oft theologisch begründet waren, eine Ignoranz gegenüber der zunehmenden Diskriminierung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen. Man denke nur an die Gegenüberstellung von synagoge und ekklesia in der christlichen Bildkunst. Oder an das Image der Jüd*innen als Christusmörder, das noch lange in den Köpfen vorherrschte. Christliche Theologie ist an dieser Stelle alles andere als politisch harmlos.
Aus heutiger Perspektive müssen wir eingestehen, dass auch unter den Christen und Christinnen nur sehr wenige Widerstand geleistet haben. Die meisten unserer Vorfahren haben geschwiegen, um ihre eigene Haut zu retten - sofern sie dem NS-Regime nicht gar Positives abgewinnen konnten oder mehr noch, davon überzeugt waren, dass es sich mit einer christlichen Grundhaltung bestens vereinbaren lässt. Olaf Blaschke weist in seiner Studie „Die Kirchen und der Nationalsozialismus“ (Reclam 2014) dezidiert nach, dass die „[…] von der Literatur genährte Erzählung von Widerstand und Martyrium […] nur einen Bruchteil der komplexen Realität“ abbildet.
Die wenigen zum Regime-Umsturz entschlossenen Katholiken hatten erhebliche Hemmschwellen katholischer Tradition und ihrer Loyalitätsgebote zu überwinden; inwieweit sie sich in ihrer Subversion dabei explizit als Kirchenmitglieder verstanden, ist in der Forschung umstritten und von Person zu Person unterschiedlich. Die einzelnen Widerstandskämpfer mussten nicht selten einen Bruch mit der loyalen Widerwilligkeit ihrer Kirche vollziehen, deren Hierarchie Autoritätsgehorsam und die Bewahrung der Seelsorge höher priorisierte als universale Gerechtigkeit; weder vor noch unmittelbar nach 1945 haben die Kirchenhierarchien zu „ihren“ Märtyrern gestanden. Vor diesem Hintergrund ist jede Vereinnahmung der Märtyrer problematisch. Es wird der Wirklichkeit mehr gerecht, diese als „Stachel und Mahnmal“ für Kirche zu verstehen. Unabhängig davon gibt es auch eine Diskussion um die Motive der Widerstandkämpfer im Dritten Reich. Häufig vermischten sich christliche Wertvorstellungen mit anderen, nicht-religiösen Motiven; politischer Widerstand ergab sich nicht unmittelbar aus dem kirchlich vermittelten Werte- und Normengerüst, sondern entscheidend auch aus dem Abstand, den diese gegenüber dem Nationalsozialismus bewahrten.
Ich unterbreche für ein zweites Gedicht von Hilde Domin
Lange wurdest du um die türelosen
Mauern der Stadt gejagt. Du fliehst und streust die verwirrten Namen der Dinge hinter dich.
Vertrauen dieses schwerste ABC.
Ich mache eine kleines Zeichen in die Luft unsichtbar, wo die neue Stadt beginnt, Jerusalem, die goldene, aus Nichts.
4. Kritik am Stil deutscher Erinnerung an den Nationalsozialismus insgesamt
Die Frage nach dem Realitätskern der Erinnerungskultur kann man auch im Blick auf die gesamte Gesellschaft stellen. International gilt vielen die deutsche Erinnerungskultur als beispielhaft. Doch es gibt auch vielgestaltige Kritik an der Art und Weise, wie der Nationalsozialismus in Deutschland erinnert wird. Die Kritik reicht dabei von gemäßigten, wissenschaftlich fundierten Stimmen, wie etwa dem Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, Berlin mit seinem Buch „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“ bis hin zu polemisch gefärbten und zugespitzten Äußerungen zum Beispiel von Max Czollek, der vom „Versöhnungstheater“ spricht. Die Kritik zielt dabei im Kern auf ein ritualisiertes Erinnern, das den Blick auf die Gegenwart verloren hat. Vermisst werden von den Protagonisten die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldgeschichte der Erinnernden (Darauf hatte schon Harald Welzer 2002 in seinem Werk „Opa war kein Nazi“ hingewiesen) und die absolut mangelnde Wahrnehmung jüdischen Lebens und jüdischer Lebensrealitäten in der Gegenwart.
Diese Kritik lässt sich durchaus untermauern. So glauben 54% der Deutschen, dass unter ihren Vorfahren Opfer des Zweiten Weltkriegs waren. Und 69%, also mehr als Zwei Drittel, nehmen an, dass es unter ihren Vorfahren keine Täter des Zweiten Weltkriegs gab. Das fanden Forscher der Universität Bielefeld und der Berliner Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in einer Studie 2018 heraus. Auf die Frage "Haben Vorfahren von Ihnen während des Zweiten Weltkrieges potenziellen Opfern geholfen (z. B. Juden versteckt)?" antworten 18 % mit Ja, 36 % mit weiß nicht und 45 % mit Nein. Gab es ebenso viele "Helfer" wie "Täter"?, fragen die Forscher in ihrer Auswertung.
Diese Aussagen zeigen, wie sehr sich das grundlegende Narrativ zugunsten einer Erinnerung an das eigene Opfersein verschoben und dieses die Selbstwahrnehmung als ein Volk von Tätern verdrängt hat. Wahrscheinlich prägen Tatsachen wie die, dass Vorfahren als Soldaten der Wehrmacht am Krieg teilgenommen haben, verwundet wurden oder ums Leben gekommen sind, oder Vorfahren zu Heimatvertriebenen wurden, die heutigen Erinnerungen viel stärker als der Fakt, dass dem Holocaust ein größerer Gewaltzusammenhang voranging, der mit der schrittweisen Ausgrenzung, Stigmatisierung und schließlich Enteignung von jüdischen Mitbürgern und anderen Opfergruppen wie den Sinti und Roma begann und erst später in der Deportation und Vernichtung endete. Ich lebe mit meiner Familie seit 1981 in einem ehemals jüdischen Stadtteil von Göppingen. Alle jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die es nicht geschafft haben, rechtzeitig ins Exil zu flüchten, sind in Theresienstadt vergast worden. Der jüdische Friedhof wurde in den letzten Jahrzehnten mehrfach geschändet und es ist leider wahr, dass nur wenige vor Ort sich aktiv für die Geschichte interessieren. Viele Deutsche haben vom Gewaltzusammenhang profitiert, sie sind damit direkt und indirekt zu Tätern geworden. In den persönlichen Erinnerungen aber scheint von dieser Dimension des Nationalsozialismus nicht mehr viel zu spüren zu sein – wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in den persönlichen Erinnerungen der Familien keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen.
Diese Macht der Verdrängung macht die Erinnerung an christliche Widerstandkämpfer „aus den eigenen Reihen“ brisant. Wie kann es gelingen, diesen zu gedenken, ohne sie im Sinne der eigenen Unschuldslogik zu vereinnahmen? Ambiguitätstoleranz kann dabei helfen: die ernüchternde, aber ehrliche Einsicht, dass ein Großteil unserer deutschen Vorfahren vermutlich eine eher unrühmliche Geschichte während des NS verbracht hat. Und ein Blick, der sich immer und immer wieder auf die nachweislichen Opfer richtet, deren Hauptgruppe unsere jüdischen Geschwister waren. Deren heutige Lebensrealitäten dürfen nicht erneut in Vergessenheit geraten. So wissen z.B. die wenigsten, dass ein Großteil der heute in Deutschland lebenden Jüd*innen nach dem Untergang der Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind. Wenn wir unsere Verantwortung gegenüber der jüdischen Community ernstnehmen, dann müssen wir ihren Erfahrungen Platz machen in unserer Erinnerungskultur. Sie bilden fast 90% der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland. Aktuell stehen die Gemeinden angesichts des Krieges in der Ukraine vor einer Zerreißprobe, weil dort sowohl Menschen engagiert sind, die einen ukrainischen, als auch Menschen, die einen russischen Hintergrund haben. Wie der Historiker Anthony D. Kauders darlegt, ist die Idee von der Kontinuität einer jüdischen Kultur und Tradition eine Illusion. Zu unterschiedlich sind die Hintergründe und Herkünfte jüdischer Immigranten.
Starke Kritik gibt es zur Frage des Erinnerns zudem an der Verwendung des #niewieder, weil das „Nie wieder“ ausblendet, dass, angesichts des zunehmenden Antisemitismus längst schon wieder Realität ist, was nie wieder hätte sein sollen. Öffentliche Äußerungen, die dem ritualisierten Gedenken entsprechen müssen kritisch reflektiert werden und ergänzt um Anregungen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldgeschichte, dem Antisemitismus in unserer Gesellschaft und der Realität des jüdischen Lebens in unserem Land.
Auch wir im ZdK stehen hier noch am Anfang und sind Lernende. Ein Ort wie dieser erinnert uns daran.
5. Wie also erinnern?
Zurück zu den Märtyrern: Ihr Anliegen und ihre Stoßrichtung kann uns als Orientierung für den eigenen Blick dienen. Worauf ist dieser Blick ausgerichtet: auf unseren eigenen Vorteil als Volk, als Gemeinschaft, als Einzelne oder wendet er sich den Opfern zu und einer freiheitlichen Gesellschaft, die sich von Antisemitismus, Rassismus und systemischer Menschenverachtung befreit und gesunde Strukturen aufzubauen versucht? Die Wahrheit ist: Es gab in Deutschland Rassismus vor der Shoa, dafür stehen die grausamen Verbrechen des Kolonialismus, für die es in Deutschland und auch in der Kirche ein viel zu kleines Bewusstsein gibt. Es gab Rassismus danach. Beispielhaft denke ich dabei an die schrecklichen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Im Juni haben Erzbischof Dr. Heße und ich in Zwickau der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds gedacht. Dieser Terrorkomplex wuchs in einem Umfeld aus institutioneller Blindheit und mangelnder gesellschaftlicher Wehrhaftigkeit gegen rassistischen Hass heran. Es gibt Rassismus heute. Die Attentate von Halle und Hanau haben uns vor Augen geführt, dass Rassismus weiterhin als Tatmotiv dient und Menschenleben fordert. Bis heute werden Unterkünfte von Geflüchteten angegriffen, erleben Menschen Alltagsrassismus in Gesprächen, bei der Wohnungssuche und auf dem Arbeitsmarkt. Gerade in diesen Wochen merken wir, wie das Asylrecht infrage gestellt wird, wie auch die Rhetorik der AfD immer wieder aufs Neue bei vielen Menschen verfängt, wie wir Wehrhaftigkeit in unserer Demokratie neu lernen und unter Beweis stellen müssen.
-Ein letztes Gedicht von Hilde Domin: Unsere langen Schatten im Sternenlicht und der Wein auf der Erde Wie eng am Tode führt unser Weg Oh Lieber bedenk es wie geliehen wir sind wie flüchtig das Unsre das Gefühl und wir selbst Was Du heute an Ich sparst und nicht bis zum Rand gibst ist morgen vielleicht so traurig und unnütz
wie die Puppe nach dem Begräbnis des
Kinds
Nur die klingende bis zur äußersten
Haut des Herzens gespannte
Stunde besteht
Um es noch einmal zu pointieren: Jenseits der selbstzufriedenen Nabelschau: Es geht nicht um die Konsolidierung der eigenen katholischen Identität. Im Gegenteil, schaut man sich die Beziehung von Delp und Moltke an, so wird eine neue Form von Ökumene damals sichtbar. Eine Ökumene der Tat, die die eigenen konfessionellen Grenzen überwand, weil es um die gemeinsame Sache ging. Eine Ökumene, die über sich selbst und die eigene Gruppe, ja sogar das eigene Leben hinauswies.
Es geht um eine Erinnerung, die nicht in der Vergangenheit stehenbleibt. Es geht um eine Erinnerung, die die Gegenwart nicht vergisst. Mit all den heutigen Opfern von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die es auch in unserer eigenen Kirche, unseren eigenen Reihen gibt. Hier können die Märtyrer uns zum Zeichen und Mahnmal werden. Vor ideologischer Erblindung schützt im Letzen nur der wachsamempathische Blick für die Leidenden in unserer Gesellschaft. Und das eigene Gewissen. Wie stärken wir die Fähigkeit, Solidarität zu üben und nicht wegzuschauen, wenn andere gedemütigt werden? Diese Frage habe ich in Ausschwitz dieses Jahr besonders mitgenommen.
Ich komme zum Ende:
Kehren wir zurück in den Gerichtssaal, in dem Moltke 1945 verhört wurde.
Moltke berichtete seiner Frau Freya, die im hohen Alter 1998 starb und selbst Mitglied des Kreisauer Kreises war, per Brief davon: „Und dann wird dein Wirt ("Wirt" ist die übliche Selbstbezeichnung Moltkes in den Briefen an seine Frau) ausersehen, als Protestant vor allem wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert und verurteilt zu werden, und dadurch steht er vor Freisler nicht als Protestant, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher – das ist alles ausdrücklich in der Hauptverhandlung ausgeschlossen –, sondern als Christ und als gar nichts anderes … Zu welch einer gewaltigen Aufgabe ist Dein Wirt ausersehen gewesen: All die viele Arbeit, die der Herrgott mit ihm gehabt hat, die unendlichen Umwege, die verschrobenen Zickzackkurven, die finden plötzlich in einer Stunde am 10. Januar 1945 ihre Erklärung. Alles bekommt nachträglich einen Sinn, der verborgen war. Das hat den ungeheuren Vorteil, dass wir nun für etwas umgebracht werden, was wir
a. gemacht haben, und was b. sich lohnt.“
Moltke deutet in dem Brief sein eigenes Schicksal. Er wurde von Gott ausersehen für ein größeres Ziel. Und dieses Ziel ist: Die Ökumene. Das gemeinsame Christsein mit seinem Gefängnisgenossen und Freund aus dem Kreisauer Kreis – dem Jesuiten Alfred Delp.
Damit gibt uns Moltke schon eine Richtung vor, wie wir ihn erinnern sollen: Als einen, der bis zuletzt für Gerechtigkeit kämpfte und genau darin zum Christ wurde. Als einer, der den Dialog suchte und sich darin selber fand.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Es gilt das gesprochene Wort.
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